Wenn Angebot und Nachfrage einander finden
Nikolaus Prokop

Bei der Partnersuche sind digitale Matching-Plattformen längst die bevorzugte Form des Kennenlernens für 60 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher. Im Lebensmittelhandel klaffen Angebot und Nachfrage allerdings oft weit und in unberechenbarer Weise auseinander und sind einer der wesentlichen Verursacher der Lebensmittelverschwendung. Ein weltweit einzigartiges und soeben beim Europäischen Forum Alpbach präsentiertes Österreichisches Pionierprojekt will mithilfe von Artificial Intelligence und Big Data Abhilfe schaffen und dem Handel ein zuverlässiges Matching-Tool für die Vermeidung von unnötigen Überschüssen liefern: Mit METRO als wichtigem Kooperationspartner beim Großhandels- und Logistik-Know-how.

Die Zahlen sind nicht nur beunruhigend, sondern sogar erschütternd: Denn eine Studie des World Wildlife Fund belegt, dass 40 Prozent der weltweit produzierten Nahrungsmittel nie gegessen werden. Oder mit anderen Worten: Beinahe die Hälfte der globalen Lebensmittelproduktion landet direkt oder indirekt im Müll. Pro Jahr werden entlang der gesamten Nahrungsmittel-Wertschöpfungskette rund 2,5 Milliarden Tonnen Abfall produziert, die eigentlich für den Teller und nicht für die Tonne bestimmt waren – davon alleine 1,3 Milliarden Tonnen im Einzelhandel und beim Nahrungsmittelkonsum. Lädt man diese 2,5 Milliarden Tonnen auf LKWs, so hätte diese gigantische Kolonne auf unserem Planeten nur wenig Platz: Denn mit rund 1,5 Millionen Kilometern könnte man sie beinahe vierzigmal um die Erde wickeln – oder zwei Mal zum Mond und wieder retour schicken. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass zusätzlich zu Klimawandel und Dürrekatastrophen auch noch aktuelle Ereignisse wie die Corona-Pandemie und die Ukraine-Krise die weltweite Hungerkrise weiter zugespitzt haben. Laut aktuellen Angaben der Vereinten Nationen sind derzeit rund 735 Millionen bzw. eine Dreiviertelmilliarde Menschen von Hunger betroffen. Das bedeutet: jeder zehnte Mensch auf diesem Planeten hungert, obwohl der Tisch für alle reich gedeckt sein könnte.

Spitzenreiter bei der globalen Lebensmittelverschwendung sind derzeit bevölkerungsreiche Länder wie China und Indien mit rund 90 bzw. 70 Millionen Tonnen an unnötig entsorgten Nahrungsmitteln. Und wäre die Lebensmittelverschwendung ein Land, wäre sie nach China und den USA die drittgrößte CO2-Emittentin der Welt. Auch in einem kleinen Land wie Österreich landet jährlich mehr als eine Million Tonnen an genießbaren Lebensmitteln im Abfall. Doch das soll den Vorgaben der EU-Kommission gegen Lebensmittelverschwendung zufolge bald ein absehbares Ende haben. Bis 2030 sollen die EU-Länder Lebensmittelabfälle, die im Einzelhandel und beim Verbrauch entstehen – also z.B. zu Hause oder in Restaurants – um 30 Prozent pro Person reduzieren. Lebensmittelmüll, der in Herstellung und Verarbeitung entsteht, soll um 10 Prozent verringert werden. Derzeit allerdings ist die Situation auch in Europa erschreckend: Jeder Konsument und jede Konsumentin wirft im Jahr zwischen 280 und 300 Kilogramm Lebensmittel im Wert von ca. 300–400 Euro weg. Und mit rund 88 Millionen Tonnen jährlich verschwenden die EU-Staaten derzeit in Summe mehr Lebensmittel, als sie importieren. Mit dieser Zahl eröffnete auch Alexandra Birkmaier von Fraunhofer Austria Research ihre Keynote beim diesjährigen Europäischen Forum Alpbach, wo sie gemeinsam mit Thomas Rudelt, Mitglied der Geschäftsführung und Direktor Einkauf & Supply Chain bei METRO Österreich, das österreichische Pilot Forschungsprojekt „Appetite“ präsentierte.

„Appetite“ verfolgt einen äußerst innovativen Ansatz, da das Projekt die Lebensmittelverschwendung nicht erst am Ende der Lieferkette bekämpfen will (wie es derzeit viele Lebensmittel-Rettungsinitiativen wie z.B. Too Good To Go tun), sondern in deren Mitte, nämlich bei der Logistik des Handels. Mit an Bord des hochkarätigen Partnerkonsortiums sind die Technische Universität Wien und die Wirtschaftsuniversität Wien, das Grazer Big Data-Analyseunternehmen Invenium Data Insights, das renommierte Wiener IT-System- und Dienstleistungshaus IT-Power Services sowie die Handelsketten Spar, METRO und Kastner. Das Ziel des von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft für drei Jahre geförderten Projekts: Die Entwicklung eines Prognose-Tools, das die Balance von Angebot und Nachfrage besser in Einklang bringt und so Überschüsse schon im Vorfeld vermeidet – basierend auf Methoden der Künstlichen Intelligenz sowie auf der Verarbeitung großer Logistik Datenmengen seitens der Handelspartner, aber auch von anonymisierten Bewegungs-und Mobilfunkdaten von Kunden sowie Umweltdaten wie z.B. aktuellen, das Kaufverhalten beeinflussenden Wetterdaten. Denn wie der Projektname schon in vereinfachter Weise verrät: „Appetite“ will vor allem vorhersagen, worauf Menschen jeweils situationsbedingt Appetit haben und so ihr Einkaufsverhalten so zeitnah vorhersehbar wie möglich machen.

„Unser Projekt ist nicht nur in Österreich ein absolutes Pionierprojekt, sondern auch weltweit“, freut sich Projektleiterin Alexandra Birkmaier nicht nur über das Zustandekommen, sondern vor allem auch über den einzigartigen Innovations Stellenwert von „Appetite“. „Derzeit existiert kein vergleichbares Projekt, das so wie wir einerseits die Lebensmittelverschwendung schon an einer ihrer wichtigsten Quellen vorbeugend bekämpfen will und das andererseits für genau diesen Zweck die neuesten Möglichkeiten datengetriebener Technologien nutzbar macht“, erklärt die Liefer- und Logistikketten-Expertin. „Eine der wichtigsten Grundlagen der Studie bilden die Kassa-und Logistikdaten, die uns unsere Projektpartner aus dem Lebensmittelhandel wie METRO zur Verfügung stellen – daraus können wir ersehen, was genau in welchen Filialen verkauft wird. Die Daten aus dem Handel allein ergeben allerdings noch keine ausreichende Prognose, deswegen verknüpfen wir sie mit relevanten Daten aus der jeweiligen Umgebung: Wie entwickelt sich etwa das Wetter? Oder finden in der Nähe vielleicht große Veranstaltungen statt, die entsprechende Menschenmengen anziehen? Indem wir meteorologische Daten und anonymisierte Mobilfunk- bzw. Bewegungsdaten in unsere Studie einfließen lassen, gewinnen wir ein weitaus aussagekräftigeres „Big Picture“ der Gesamtsituation und können Handelsketten Prognosen zur Verfügung stellen, um auf die jeweilige Nachfragesituation entsprechend rechtzeitig reagieren zu können.“

Allerdings: Die hierbei anfallenden Datenmengen sind für Menschen längst nicht mehr überschaubar, weshalb das Projekt auf lernfähige Artificial Intelligence setzt: „Mithilfe von KI können wir die Muster in diesen Daten erkennen und für die Prognose nutzbar machen“ erläutert Alexandra Birkmaier weiter. „Indem wir Bedarf und Nachfrage in Beinahe-Echtzeit möglichst präzise aufeinander abstimmen, können wir Lebensmittelverschwendung schon im Vorfeld verhindern. Natürlich kann auch die KI die Lebensmittelvergeudung nicht einfach wegrechnen, aber sehr wirkungsvoll verringern. Denn mit den derzeitigen technischen Mitteln der Bedarfsplanung, die häufig noch auf sehr veralteten Algorithmen basieren, sind viele Lebensmittel zur falschen Zeit in der falschen Menge am falschen Ort vorhanden. Auch Leerfahrten, die derzeit durch die ungenügende Planung der Lkw-Kapazitäten ein erheblicher CO2- Verursacher sind, können durch die KI-gestützte Prognose effizient verringert werden. Und auch im Fall, dass z.B. die Informationen eine bereits belieferte Filiale zu spät erreichen, ist der Informationsvorsprung trotzdem sehr wertvoll: LebensmittelRettungsinitiativen wie die Österreichischen Tafeln oder Too Good To Go erfahren umso schneller Genaues über den Überschuss und können ihr Angebot weitaus besser vorausplanen: z.B. mit noch attraktiveren Überraschungssackerln, die weitaus weniger Überraschungen, sondern viel mehr transparente Angebote bieten, oder mit einem Menüplan in einer karitativen Organisation, der für die Küche weitaus besser plan- und organisierbar ist.“

Bis der neue lernfähige Prototyp der digitalen Matching-Plattform für Angebot und Nachfrage tatsächlich Praxis und Serienreife erreicht hat, und Big Data gemeinsam mit Artificial Intelligence vorhersagen kann, in welchem Ausmaß an einem erwarteten schönen Sommertag z.B. der Bier-, Grillwürstchen- und Eisbedarf tatsächlich steigen könnte, wird es freilich noch ein Weilchen dauern – denn vor 2025 wird die auf drei Jahre angelegte Forschungsstudie vorerst nicht abgeschlossen sein.

Interview mit Thomas Rudelt

Als Geschäftsführer des Einkaufs bei METRO Österreich sitzt Thomas Rudelt direkt an den Logistikhebeln von Angebot und Nachfrage – und damit auch nah am Puls des neuen Forschungsprojekts „Appetite“ von Fraunhofer Austria Research, das mithilfe von Logistikdaten und Know-how von METRO zustande kam.

METRO Österreich ist Partner des Forschungsprojekts „Appetite“ von Fraunhofer Austria Research, das ein Artificial-Intelligence-Prognosetool gegen die Lebensmittelverschwendung entwickelt. Wie ist METRO Österreich auf dieses Projekt aufmerksam geworden? Aus welchen Gründen hat sich METRO zur Partnerschaft bei diesem Projekt entschlossen, und welche Rolle spielt METRO dabei?

Thomas Rudelt: Wir wurden von Fraunhofer Austria Research als möglicher Partner angesprochen, da wir zuvor in Zusammenhang mit einem anderen Forschungsprojekt zur Rückverfolgbarkeit von Produkten bereits im Gespräch waren. Der Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung ist seit vielen Jahren ein großes Thema bei METRO, wie auch unsere Zusammenarbeit mit den Österreichischen Tafeln oder Too Good To Go zeigt. Somit hat das neue Forschungsprojekt „Appetite“ sehr gut zu unseren Strategien und Interessen gepasst. METRO liefert derzeit historische Daten zu Warenabgängen, damit das Tool entsprechend „gefüttert“ werden kann.


Das Artificial-Intelligence-Prognosetool von Fraunhofer Austria Research basiert u. a. auf großen Logistikdatenmengen, aber z. B. auch auf Wetter- und Mobilfunkdaten, die Angebot und Nachfrage optimal aufeinander abstimmen sollen. Mit welchen Daten und Informationen und mit welchem sonstigen Know-how kann METRO Österreich dieses Forschungsprojekt unterstützen?

Wie zuvor erwähnt, haben wir Daten aus den zurückliegenden Jahren zur Verfügung gestellt. In den Diskussionen, die davor stattfanden, wurden die genauen Abläufe in der Logistik des Lebensmittelgroßhandels, Abläufe und Bestellrhythmen in den Großmärkten sowie Unterschiede in den Kundengruppen und deren Bedürfnissen genau besprochen – hier konnten wir als führendes Großhandelsunternehmen wesentlich dazu beitragen, die genauen Unterschiede des Großhandels zum Einzelhandel herauszuarbeiten.


Die Fertigstellung sowie die konkrete Anwendung des Forschungsprojekts werden voraussichtlich noch einige Jahre in Anspruch nehmen. Wie kann man sich dann die praktische Anwendung des Tools vorstellen und welchen besonderen Nutzen wird METRO Österreich daraus ziehen können? Welche Vorteile könnten sich daraus auch für die Kundinnen und Kunden von METRO Österreich in Zukunft ergeben?

Wir erwarten uns von diesem Tool exaktere Prognosen für die benötigten Lebensmittelmengen für unterschiedliche Regionen – abhängig von Wetterprognosen und diversen anderen Einflüssen auf unsere Kundinnen und Kunden bzw. auch auf Basis von Einflüssen, die von unseren Kundinnen und Kunden selbst ausgehen. Wenn exakter bestellt werden kann, ist dies ein wesentlicher Vorteil für METRO, da weniger Überschussware verteilt oder womöglich vernichtet werden muss, falls zu viel bestellt würde. Für die Kundinnen und Kunden verdoppelt sich der Vorteil eines funktionierenden Prognosetools: Wenn die Nachfrage größer wird, ist die Warenverfügbarkeit sichergestellt, wenn die Nachfrage geringer ist, ist die Frische der Ware gewährleistet, da keine Überhänge im Lager verbleiben.

Fotocredits: METRO ÖSTERREICH

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